Kunde: Gerhard Neumeier
Text: Bildbetrachtung „Carravagio“
Begleitbuch zu Grafikserie „Vier Quartette des Geistes“

Textauszug


Die Maler - Caravaggio
»Caravaggio malt für Lagerfeld einen Schnörkel am Faltenkniff«

Paris, Spätsommer 1954. Studierzimmer des Karl Lagerfeld (15): »Merde, jetzt hab ich diesen beknackten Mantel schon dreiundvierzig mal skizziert und noch immer bringt’s der Entwurf nicht, zumindest nicht endgültig, nicht wirklich exzellent, nicht würdig die Jury des Championats in helle Begeisterung, ja Entzücken zu versetzen!«

Eine innere Stimme: »Es fehlt am Fluss der Falten, mein lieber Karl ...« K.L. (wird der inneren Stimme gewahr): »Fluss der Falten? Fluss der Falten, natürlich! Der Faltenfluss. Das leichte Fallen des Textils. Das selbstverständliche Fließen des Materials. Das weiche, anschmiegende Umfangen des Körpers. Das Leben ist’s, was diesen Skizzen fehlt. Welch geniale Eingebung! Doch mir war, als hörte ich eine Art Stimme? War das nun mein Genius, der aus mir sprach, oder ist da jemand, dem ich diese Erkenntnis zu danken habe?«

Stimme:
»Du bist nicht allein, mein Lieber, wenn du das meinst. Ich bin auch da. Schon seit langem. Ich bin dein Bruder im Geiste; dein Vertrauter im Herzen; dein Vorfahr und Vorbild; dein Freund und ständiger Begleiter...«

K.L.:
»Was soll das? Wer bist du? Was willst du von Karl Lagerfeld? Ich kenne dich nicht, hab dich nie gesehen.«

Stimme:
»Aber Karl, ich bin bei dir seit deinem ersten Tag. Ich bin Teil von dir, stets in dir und um dich. Nur: bis heute wurdest du meiner nicht gewahr, hast mich nicht gebraucht, bist deinen Weg ohne meinen aktiven Beistand, meine tägliche Hilfe gegangen. Kompliment übrigens, es will was heißen, auf einen Caravaggio verzichten zu können!«

K.L.:
»Wie bitte? Caravaggio? Willst du mich verscheißern? Und was soll das eigentlich: ‘In mir, bei mir, um mich ...’ ich war schon immer ein einsamer Wolf, habe alleine gelebt, gehandelt, entschieden. Schau mich an, ich bin noch keine sechzehn Lenze und lebe schon in eigener Verantwortung in Paris, kümmere mich um meine Karriere. Nein, mein Lieber, der du Caravaggio zu sein vorgibst, in mir ist nur meine geniale Willenskraft und um mich, um mich ist viel zu viel Ignoranz und Dummheit. Und bei mir schließlich ist mein Skizzierblock, sonst nichts!«

Michelangelo Merisi da Caravaggio (M.M.C.):
»Oh du, mein zweites Ich, wie du mir doch aus der Seele sprichst. Dieser Satz, so herrlich exzentrisch, so fantastisch arrogant, er hätte von mir sein können. Wie glücklich doch die Fügung, dich als Hülle für meine Inkarnation, mein stilles Fortwirken ausgewählt zu haben. Genialer Geist, verquerer Denker, exzessiver Triebtäter, du bist ich und ich bin du! Gemeinsam gehört uns die Welt!«

K.L.:
»Non mais, c’est pas croyable. Ich und Caravaggio? Ich bin Caravaggio. Er ist ich. Ich bin er. Wir sind eins? Beweise, du geheimnisvolle Stimme aus dem Nichts, beweise mir, dass du kein Trugbild bist. Kneifen wirst du mich wohl nicht können, du körperloses Etwas, wie werde ich dann jemals erfahren, ob ich nicht wahnsinnig, du nur eine Erfindung meines von schöpferischen Ergüssen ermüdeten Hirnes bist? Beweise will ich, kein Geschwätz. Handfeste Zeugnisse deiner realen oder zumindest deiner spirituellen Existenz. Sonst verbanne ich dich in die hintersten Kammern meiner Windungen, compris?«

M.M.C.:
»Du Narr, selbst wenn du nichts mehr ersehntest, jetzt wirst du mich nicht mehr los. Jetzt, da der Bann gebrochen. Beweise willst du? Du sollst sie haben! Zuerst das Fühlen. Ist dir noch nie aufgefallen, wie kalt dich die schlanken Leiber, knospenden Brüste, glutvollen Augen der jungen Weiber lassen? Selbst vor Tagen, als dir die kleine Jeanne Cayand in der Metro - sie mühte sich sehr, es wie zufällig erscheinen zu lassen - ihren Schoß gegen den Vorderschlitz deiner Hose drückte, schoss kein Tropfen Blut in deine Schwellkörper. Keine Spur von Lust oder Begierde flammte in Ddir auf. Wie anders aber, als Roger, du weißt schon, der kleine Lessnier, dir vorgestern früh ein kleines Lächeln schenkte. Dein Herz schlug bis in die Haarspitzen. Deine Erregung war für jeden sichtbar und so stark, dass dir die Hoden noch beim Abendessen schmerzten. Erkennst du die Neigung, die Natur? Das bin ich, mein guter Karl. Das bin ich in dir! Doch zum Futur. Wer Unternehmer-Spross und Selbstdarsteller einmal werden wird? Nur ich kann das, denn ich bin eine Geistgestalt. Mir kann nichts verborgen bleiben. Was sagen dir die Namen Pierre Balmain, Jean Patou, Chloé, Chanel, Fendi - halt, der letztere kann dir nichts sagen, den gibt’s ja heute noch gar nicht alle werden deinen Weg kreuzen; alle wirst du überflügeln, alle werden dich ‘Karl den Großen’ nennen. Ein Schloss wird dein eigen sein im Herzen der Bretagne; wo immer du sein wirst auf dieser Welt, man wird deine Gesellschaft suchen, so viel, so lange, so intensiv, dass du dir gerne einen eigenen Stern erschaffen würdest, man wird ...«

K.L.:
»Hör auf, ich bitte dich, halt ein, du hast mich überzeugt. Wenn ich auch einräume, dass es vielleicht die Eitelkeit ist, diese Schmeicheleien - denn als solche empfinde ich deine Auslassungen - zu hören, die mich an deine Botschaft glauben lassen. Nur eins noch, eine letzte Frage, nein, heißen wir’s Prüfung. Du weißt, wie wichtig dieser Wettbewerb für mich ist. Du kritisiertest zu Recht den Faltenwurf an meiner Mantelskizze, meinen Faltenwurf. Führe meine Hand und vollende, was ich begonnen habe, an dem mein halbes Ich zu scheitern drohte. Dann will ich dir glauben, dann sei du mein zweites Ich.«

M.M.C.:
»Nichts leichter als das. Doch ich will dich nicht in Unwissenheit
lassen mit der Tat allein. Wissen sollst du, weshalb es sein wird, so sein muss. Kennst du meinen ‘irdischen Amor’? Ganze Bücher wurden verfasst, um zu ergründen, was ich in diesem Bilde alles versteckte. Und immer wieder ist von dem genialen Faltenwurf die Rede, der sich über die Liegestatt ergießt, auf der Amors Bein sich aufreizend spreizt. Der Gipfel der Interpretation aber war das Erkennen einer Vagina, einer leicht geöffneten Vagina versteht sich, denn das erhöht den erotischen Reiz. Du verstehst, was ich meine! Die Skizze deines Mantels muss nicht nur die geniale Idee, sondern auch eine erotische Ausstrahlung in sich vereinigen. Wer will, ja wer kann sich der Kraft dieser Arbeit dann noch entziehen? Ja lieber Karl, mein neues Ich, das sei der Beweis. Du sollst deinen Schnörkel am Faltenkniff haben.«

Auszug.

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